Bayer-Coach Heynckes: Altmeister neu entdeckt

  • Bayer Leverkusen legt einen furiosen Saisonstart hin - wie schon so oft. Dass der Erfolg diesmal nachhaltig sein könnte, liegt am Luggi-Müller-Faktor. Und an Jupp Heynckes. Der einstige Autoritätsfreak gibt sich neuerdings ganz entspannt, das Team dankt es mit Toren am Fließband.


    In einer fernen, fernen Zeit - das war sogar noch kurz bevor mit Willy Brandt ein SPD-Politiker Bundeskanzler werden konnte - da hatte der Mönchengladbacher Trainer Hennes Weisweiler eine Idee. Seine Mannschaft stürmte immer so schön, bekam dafür aber hinten jede Menge Tore rein. Und so holte Weisweiler (oder vielleicht war es auch sein Chef Günter Netzer) im Sommer 1969 den Abwehrhaudegen Luggi Müller aus Nürnberg. Und den Ausputzer Klaus-Dieter Sieloff aus Stuttgart gleich dazu. Fortan war die Abwehr dicht und Gladbach wurde zweimal in Folge Meister. Der Rest ist internationale Fußballgeschichte.


    Genau 40 Jahre später hat man den Eindruck, als spielten einige Teams der Bundesliga um den Luggi-Müller-Gedächtnispreis. Etwa 1899 Hoffenheim, wo mit Ralf Rangnick ein Trainer arbeitet, der in den frühen Siebzigern Gladbach-Fan war und der im Vorjahr ein ähnliches Problem hatte wie einst die Borussia. Rangnicks Luggi heißt jetzt Josip Simunic (ohne den es am Samstag eine 1:2-Niederlage bei Aufsteiger Mainz gab). Oder auch Werder Bremen, bei dem Manager Klaus Allofs und Trainer Thomas Schaaf im Sommer die Spielphilosophie des fröhlichen Angreifens überarbeitet haben, also einen mentalen Luggi ins System eingebaut sehen wollen.


    Gemeint ist aber vor allem der neue Tabellenführer. Mit dem 4:0 gegen den 1. FC Nürnberg hat Bayer Leverkusen seinen gelungenen Saisonstart auf sechs Siege und zwei Remis ausgebaut, dabei 18 Tore geschossen und nur fünf bekommen. Es ist der beste Start seit dem Bundesliga-Aufstieg 1979. Die nächste Prüfung folgt nach der Länderspielpause in zwei Wochen beim Spitzenduell in Hamburg.


    Nun ist Leverkusen schon öfter furios gestartet. Zuletzt im Vorjahr als sich mit Bruno Labbadia eine Renaissance des schönen und erfolgreichen Bayer-Fußballs anzukündigen schien. Am Ende war es trotz der Teilnahme am Pokalfinale mit dem neunten Platz das schlechteste Jahr seit 1996 unter Erich Ribbeck. Man stritt sich, ob es an Labbadia lag oder daran, dass das notorische Vorurteil vom Schönwetter- und Weichei-Team eben doch keines ist.


    Warum sollte der Erfolg dieses Jahr nachhaltig sein? Man weiß es selbstverständlich nie. Die engere Spitze der Bundesliga steckt seit eineinviertel Jahren in einem Umwälzungsprozess und noch ist unklar, wer wen von den langjährigen Bayern-Konkurrenten Bremen, Stuttgart und Schalke mittelfristig verdrängen kann. Ebenso unklar ist, ob sich der Ralf-Rangnick- und Jürgen-Klopp-Powerfußball durchsetzen wird oder im Zuge der Erfolge von Spanien und dem FC Barcelona der spanisch orientierte Ballbesitzfußball, den zum Beispiel Jupp Heynckes mit Bayer perfektionieren will.


    Schluss mit der autoritären Verkrampfung


    Der späte, vom echten Leben geprägte Heynckes, so erzählen Experten vor Ort, sei eine erstaunliche Figur geworden. Nichts mehr von jener knallrot leuchtenden autoritären Verkrampfung ("Osram"), mit der er einst in Frankfurt eine spannende Mannschaft auseinandernahm. Kommt einer zu spät zum Training oder zieht um die Häuser? Pfft, sagt Heynckes. Nicht sein Bier. Das müsse die Mannschaft regeln, "ich mache das nicht mehr." Großartig. Oder wahnsinnig gefährlich? So etwas kann sich im Fall des Misserfolgs selbstredend schnell gegen einen wenden.


    Aber das Interessante ist, dass Heynckes, der vergangene Saison ja auch die unter Jürgen Klinsmann desorientierten Bayern wieder in die Spur brachte, nichts mehr anfechten kann. Er war als Spieler Welt- und Europameister, coachte Real Madrid zum Sieg in der Champions League. Und nun will er mit 64 Jahren wissen, ob es anders nicht noch besser geht. Das ist die Konstellation, die Bayer 2009/10 zu einem der interessantesten Fälle dieser Saison macht: Ob nach dem autoritären Druckregime des Felix Magath ein anderes Modell der Zusammenarbeit hervortritt.


    Ob Heynckes den Altruismus der modernen, laufstarken, taktisch klug arbeitenden Profis wie Simon Rolfes und Stephan Kießling so zum Funktionieren bringt, das am Ende tatsächlich Teamverantwortung und erfolgreicher, hierarchieflacher Kombinationsfußball herauskommt - und nicht der Vorwurf, ein Rolfes sei halt letztlich doch ein zu braver Bubi.


    Simon Rolfes auf Messis Spuren


    Nicht nur für Heynckes ist der Witz an modernen Topfußballern wie Andres Iniesta und Lionel Messi (beide Barcelona) ja gerade, dass sie nicht das alte Bild vom glamourösen, schwierigen Superstar reproduzieren. Aber manchmal ist Egoismus der wahre Altruismus, das hat Iniesta im CL-Halbfinale gegen Chelsea gezeigt, als Barças Ausscheiden eine Sache von Sekunden war und der uneigennützigste Spieler der Welt den Ball nicht mehr abspielte, sondern einfach reinhämmerte. Dahin will Heynckes seinen Kapitän Rolfes bringen, und da sieht man schon erste Ansätze.


    Generell erkennen die Verantwortlichen beim ja seit längerem laufenden Aufbau des neuen Bayer-Teams kollektive Fortschritte. Mit Daniel Schwaab und Eren Derdiyok hat man noch zwei spannende, junge Spieler dazu gewonnen, und auch Bayern-Leihgabe Toni Kroos, 19, scheint zu kommen. Man habe gelernt aus dem vergangenen Jahr, sagt Rolfes. Und die "neue Spielphilosophie" zahle sich aus. "Die Mannschaft lernt zu null zu spielen", sagt Heynckes. Der Sieg gegen Nürnberg war das fünfte von acht Spielen ohne Gegentor.


    Mit Sami Hyypiä kam die Stabilität


    Und damit sind wir bei Sami Hyypiä, 36. Der finnische Innenverteidiger war zuletzt zehn Jahre beim FC Liverpool. In der Vorsaison kam er noch auf 16 Ligaeinsätze. Er soll das Symbol des "neuen" Bayer sein, sein Name steht für jenes "bisschen mehr an Stabilität" (Sportdirektor Völler), das auch Mitspieler Manuel Friedrich gut tut und derzeit den Unterschied macht.


    Wie wichtig der Luggi-Müller-Trick ist, sieht man beim VfL Wolfsburg. Entscheidend für den Titelgewinn war dort der Einbau des Innenverteidigers Andrea Barzagli. Allerdings schwächelt Barzagli derzeit. Entsprechend rappelt es im Wolfsburger Tor.


    Ob Bayer Leverkusens Fußball der Ballzirkulation und prioritären Fehlervermeidung tatsächlich unspektakulärer sein muss als frühere Bayer-Varianten, ist längst nicht ausgemacht. Borussia Mönchengladbach stand auch mit Luggi Müller für schönen Fußball und viele Tore. Hauptverantwortlich für letzteres war ein außergewöhnlicher Linksaußen. Sein Name: Jupp Heynckes.


    http://www.spiegel.de/sport/fussball/0,1518,653114,00.html