Teil 1:
ZitatAlles anzeigenPROGNOS ZUKUNFTSATLAS
Leere Kassen
Leverkusen ist strukturstark, hat mit Bayer einen globalen Konzern in der Stadt, ist aber trotzdem pleite. Im Prognos Zukunftsatlas fällt die Stadt deutlich zurück.
Von Simone Wermelskirchen
Schlote, Forschungslabore, Fabrikanlagen. In luftiger Höhe ziehen Rohrbrücken ihre Bahnen über roten Mitarbeiterfahrrädern und bunten Sicherheitshelmen. "33 Jahre arbeite ich jetzt hier", sagt Michael Nassenstein und fährt sein Auto zielsicher durch das verwirrende Straßen-, Wege-, Rohrgeflecht des Leverkusener Chemparks - eines der größten Chemieparks in Europa. "Beim Bayer", so sagt er, arbeite seine Familie "in dritter Generation".
Über dem Gelände thront das Bayer-Kreuz mit seinen modernen Leuchtdioden, die die 1 710 einstigen Glühbirnen inzwischen ersetzt haben - das Wahrzeichen der Stadt: den Berlinern das Brandenburger Tor, den Kölnern ihren Dom, den Leverkusenern das Bayer-Kreuz.
Menschen wie Nassenstein, die ihr Leben mit dem riesigen Chemiekonzern verbunden haben, trifft man in Leverkusen überall. Einst standen auf dem 480 Hektar großen Areal am Rhein, durch das Nassenstein an diesem Morgen fährt, nur Bayer-Verwaltungs- und Produktionsgebäude - heute sind auch andere chemienahe Firmen angesiedelt.
Von diesem Ort aus startete das weltbekannte "Aspirin" seinen Siegeszug um den Globus. Von diesem Ort eroberte Bayer die Pharma- und Chemiewelt. Derzeit versucht der Konzern unter Führung des neuen Vorstandsvorsitzenden Werner Baumann, die Expansionsgeschichte Bayers um ein großes Kapitel zu ergänzen. Die Leverkusener wollen für 55 Milliarden Euro das US-Unternehmen Monsanto übernehmen - und damit weltweit zum größten Agrochemiehersteller werden.
Leverkusen - das war immer Bayer. Bayer - das war immer Leverkusen. Doch während die Erfolgsgeschichte von Bayer kein Ende zu kennen scheint - der Konzern war zeitweise das wertvollste Unternehmen im Dax -, hat die Stadt, die seit 1912 um den Chemiekonzern wuchs, inzwischen große Probleme. Zu lange hat sich Leverkusen auf seinen mächtigen Konzern verlassen.
Jetzt berichten die örtlichen Zeitungen über "leere Kassen" und harte "Sparmaßnahmen". Auch im aktuellen Zukunftsatlas des Forschungsinstituts Prognos, das gemeinsam mit dem Handelsblatt alle drei Jahre ein Regionen-Ranking veröffentlicht, zählt Leverkusen zu den großen Verlierern: Die Stadt fiel von Rang 89 auf Platz 196 der rund 400 bewerteten Kommunen zurück.
Das ist erstaunlich. Denn Leverkusen verfügt durchaus über herausragende Stärken. Dazu zählen gute Ergebnisse im Bereich "Forschung und Entwicklung" sowie die enorme Innovationskraft des Standorts. Hochqualifizierte Kräfte sind auf dem Arbeitsmarkt gesucht. Gering qualifizierte dagegen haben kaum eine Chance. Deshalb die hohe Arbeitslosigkeit von 8,4 Prozent. Deshalb der hohe Anteil von Bewohnern, die in Bedarfsgemeinschaften leben - rund zehn Prozent.
Leverkusen ist ein Paradox: innovativ und produktiv - mit vielen Arbeitslosen. Heimat des Weltkonzerns Bayer - und trotzdem pleite. So wird für das Jahr 2016 ein Minus von über 36 Millionen Euro in der Kasse erwartet. Während bei anderen Städten mit Großkonzernen wie etwa Wolfsburg, wo VW zu Hause ist, die Haushaltslage sehr entspannt ist, herrscht in Leverkusen akute Finanznot.
Viele Bedürftige, leere Stadtkasse. Die Rechnung klingt zunächst logisch, wäre da nicht Stadtkämmerer Frank Stein, der anders argumentiert: "Wir liegen in einer boomenden Region und müssten unsere Soziallasten aus eigener Kraft stemmen können." Er holt eine Grafik hervor, in der es um enorme Mengen an erzeugten Waren und Dienstleistungen geht. Oder genauer: Mit fast 82 000 Euro Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Erwerbstätigen liegt Leverkusen hinter Bonn und Düsseldorf im Land Nordrhein-Westfalen (NRW) ganz weit vorne, was die Wertschöpfung angeht.
Doch ausgerechnet die Stadt mit dem Global Player Bayer leidet unter einem Abwärtstrend bei der Gewerbesteuer, auch wenn es seit dem Tiefpunkt von 2014 wieder ein wenig aufwärtsgeht: Unter Berücksichtigung der Planzahlen für das vergangene Jahr wurden in Leverkusen rund 400 Euro pro Einwohner an Gewerbesteuer eingenommen. In Wolfsburg, das wie Leverkusen eine wirtschaftliche Monokultur aufweist, waren es 2014 sagenhafte 2 225 Euro. Und trotz Dieselskandals, der im September vergangenen Jahres ausbrach, nahm die Stadt im vergangenen Jahr immerhin noch 695 Euro ein.
Die Antwort auf die Frage, wie sich in Leverkusen die ausbleibenden Einnahmen erklären lassen, unterliegt dem Steuergeheimnis. Wer es bricht, begeht eine Straftat. "Ich kann nur so viel sagen, dass dies die Konsequenz sowohl von Standortentscheidungen der Unternehmen als auch die Nutzung legaler Instrumente zur Optimierung der Steuer ist", kommentiert Stein als studierter Jurist vorsichtig. Beim Bayer-Konzern selbst heißt es: kein Kommentar. Auch die anderen ortsansässigen Firmen wollen sich nicht offiziell äußern, liefern aber gerne ein Stichwort: "Monheim". Dort hat Bayer nicht nur seine Agrochemie-Sparte, sondern seit 2012 auch seine Patentabteilung - von Leverkusen ging es nach Monheim.
Das kleine Monheim zwischen Köln und Düsseldorf hat null Schulden und die niedrigste Gewerbesteuer in NRW (Hebesätze 2015: Monheim 285; Leverkusen 475). 225 Millionen Euro Gewerbesteuer nahm man im vergangenen Jahr dort ein - dafür braucht Leverkusen fast vier Jahre. Kein Wunder also, dass auch Leverkusens Kämmerer den Hebesatz gerne herabsetzen würde. Als Beispiel dient dem Sozialdemokraten Ludwigshafen. Dort hat man sich 2002 mit dem ortsansässigen Chemieriesen BASF vereinfacht formuliert so geeinigt: Die Stadt hält sich mit dem Hebesatz zurück, der Konzern verspricht dafür, nicht jede Chance zu nutzen, um die Gewerbesteuer zu optimieren. Ein ähnlicher Deal, den Stein gerne auch für Leverkusen abgeschlossen hätte, kam aber bislang nicht zustande.
Doch nicht alles dreht sich in Leverkusen um die Gewerbesteuer. Die niedrigen Einnahmen sind nicht die Ursache für die schwierige Situation Leverkusens. Sie sind ein Symptom. Auch mit höheren Einnahmen wäre die Zahl der Bedürftigen nicht viel niedriger.
Warum dann so viele Arbeitslose in einer hochproduktiven Stadt? Unweigerlich führt die Spurensuche in Leverkusen dorthin, wo alles begann: auf das ehemalige Bayer-Werksgelände, seit 2008 nur noch "Chempark" genannt.
Gemanagt und betrieben wird das Areal von Currenta - einem Joint Venture aus Bayer und Lanxess. Hervorgegangen ist das Unternehmen aus den ehemaligen Bayer-Standortdiensten und daher zuständig neben weiteren Chemieparks für Infrastruktur und Serviceleistungen im Chempark Leverkusen: Dazu gehören etwa die Energieversorgung, Umweltdienstleistungen und alles, was die Sicherheit rundum betrifft.