Heynckes: "Fußball hat eine viel zu große Bedeutung"

  • Leverkusen. Jupp Heynckes hat Bayer Leverkusen überraschend an die Tabellenspitze geführt. Vor dem Heimspiel am Freitag gegen Dortmund spricht Heynckes im Interview über seine Spieler, seine Wandlung als Trainer und den neu entdeckten Spaß-Faktor.


    Vor ein paar Monaten, hat Jupp Heynckes neulich erzählt, hat Cando getrauert. Ein Abschied stand an. Heynckes hatte sich von Bayern München aus dem Trainerruhestand hervor locken lassen und irgendwie, sagt Heynckes, müsse sein Schäferhund wohl gespürt haben, dass seinem Herrchen künftig die Zeit für ihn fehlt. Das Intermezzo bei den Bayern ist Geschichte, aber es hat gereicht, um Jupp Heynckes zu kitzeln. Er unterschrieb im Sommer einen Zwei-Jahres-Vertrag bei Bayer Leverkusen und versetzt seitdem die Fußball-Fans in Erstaunen. Sein Team ist ungeschlagener Tabellenführer, und Heynckes überrascht mit einer Gelassenheit, die kaum jemand vermutet hätte.


    Herr Heynckes, seit Sie in München Jürgen Klinsmann abgelöst haben, sind Sie Teil einer merkwürdigen Diskussion. Sind denn nun ältere oder jüngere Trainer die bessere Wahl?


    Jupp Heynckes: Das ist wie in jedem anderen Beruf. Jung oder Alt ist nicht entscheidend. Es zählt die fachliche Kompetenz. Und genauso wichtig ist die Frage, wie man mit den Menschen umgeht, die einem anvertraut sind.


    Sie sehen sich also nicht als Trendsetter zurück zu älteren Trainern?


    Heynckes: Nein, nein.


    Trotzdem kann ein älterer Trainer diese Frage leichter beantworten: Muss man Spieler heute anders behandeln als früher?


    Heynckes: Ein klares Ja. Unsere Gesellschaft verändert sich rapide, immer wieder. Ich glaube, dass junge Menschen viel mehr Einflüssen und Reizen ausgesetzt sind als früher, sie sind regelrecht überladen damit. Das gilt unabhängig vom Sport. Deshalb müssen sie heute ihr Leben richtig organisieren. Das heißt, das Wichtige vom Unwichtigen trennen.


    Die Spieler von heute sind . . .


    Heynckes: . . . auf der einen Seite locker. Leger. Und dann erlebe ich wieder eine junge Fußball-Generation, die sehr ernsthaft in der täglichen Arbeit ist, akribisch und fleißig.


    Klingt eigentlich nicht schlecht.


    Heynckes: Trotzdem muss man als Trainer eine gewisse Sensibilität mitbringen. Sie müssen erkennen und richtig darauf reagieren, was in einer Mannschaft mit all ihren unterschiedlichen Charakteren passiert. Ich weiß inzwischen, dass man mit Flexibilität viel mehr Leistung herauskitzeln kann, als wenn man stur eine Linie verfolgt.


    Täuscht der Eindruck, oder haben Sie in Leverkusen eine Truppe, die es einem leicht macht?


    Heynckes: Ich sage jedem, dass es Spaß macht, mit dieser Mannschaft zu arbeiten. Es klingt jetzt vielleicht altmodisch, aber ich sehe höfliche Spieler, gut erzogene Spieler. Das macht das Arbeiten angenehm. Meine Jungs sind selbstkritisch, und vor allem hören sie zu.


    Wie erreicht man Menschen, die die eigenen Enkel sein könnten?


    Heynckes: Ich muss sehr konzentriert sein und mich vorbereiten, auf jedes Training und auf jede Besprechung. Spieler haben heute ein feines Gespür für das, was man ihnen erzählt. Mit Blabla geht da nichts. Aber ich wiederhole mich gerne: Es macht Spaß, es ist angenehm, mit diesen Jungs zu arbeiten. Ja, das ist das richtige Wort: angenehm.


    Sie selber wirken ebenfalls verändert. Sie galten als verbissen, als stur. Und reden jetzt von Sensibilität, von Flexibilität . . .


    Heynckes: Ich habe neulich noch mit einem befreundeten Journalisten darüber gesprochen. Er hat mir gesagt: Privat bist du immer so gewesen, wie dich die Leute jetzt erleben. Nur hast du das nie nach außen gelassen. Und das stimmt, ich war distanzierter, reservierter. Ich spüre den Unterschied ja selber. Wissen Sie, was bei mir tatsächlich ein Entwicklungsprozess war? Ich habe heute keine Vorurteile mehr.


    Sie sind 64. Ist das Altersmilde?


    Heynckes: Man lernt, dass es nicht nur Fußball gibt, dass wir in einer Welt leben, die furchtbar sein kann. Wir haben in diesem Land Soldaten, die kommen mit den Füßen voran aus Afghanistan zurück. Dabei befinden wir uns dort doch angeblich nicht im Krieg. Das sind junge Menschen, die ihr Leben lassen und in diesem Land nimmt kaum jemand Notiz davon. Versetzen Sie sich mal in die Lage der Eltern. Verglichen damit hat der Fußball eine viel zu große Bedeutung. Und das sage ich, der nie mit Niederlagen leben konnte.


    Nach Ihrem Rücktritt in Mönchengladbach Anfang 2007 waren Sie zwei Jahre lang Privatmann. Man sagt, das habe sie verändert.


    Heynckes: Ich habe in diesen beiden Jahren einiges durchgemacht. Ich war krank, hatte viele Operationen. Es gab Nachrichten, nach denen man sich gefragt hat: Geht das gut oder nicht? Hast du Glück oder nicht? Dann verliert man Menschen, die einem nahe stehen. Plötzlich ist ein Freund nicht mehr da. Das bewirkt diese Bewusstseinsänderung: Ich ärgere mich nicht mehr.


    Das hält bis in den Alltag?


    Heynckes: Man wird gelassener, souveräner. Wenn in Chile der Sohn von Arturo Vidal erkrankt, dann lasse ich seinen Vater nach Hause fliegen. Ein guter Typ zahlt einem Trainer so was zurück. Wenn mich früher ein Spieler gefragt hätte, ob er am Sonntag frei haben kann, weil die Mutter 50 wird, hätte ich ihn wohl nicht gehen lassen. Heute sage ich: ab nach Hause mit dir. Man muss sensibel mit Spielern umgehen. Dann macht es allen mehr Spaß.


    Das Wort „Spaß” hat man früher mit dem Trainer Heynckes nicht in Verbindung gebracht. Haben Sie jetzt erst den Spaß an der Arbeit entdeckt?


    Heynckes: Nein, das nicht. Als ich zum Beispiel in Bilbao trainiert habe, einen Verein, der bis heute nur Basken verpflichtet, hatte ich eine tolle Zeit. Die Mentalität dieser Leute ist richtig cool. Auch hier in Leverkusen ist die Zusammenstellung der Mannschaft kein Zufall.


    Inwiefern?


    Heynckes: Wir haben nur vier Spieler, die nicht fließend deutsch sprechen. Dafür sogar sehr viele aus dem eigenen Verein. Das ist unbezahlbar. Wenn sie eine Multi-Kulti-Truppe haben, ist das Verständnis untereinander nicht so groß, dann verzeiht man sich auch Fehler nicht so leicht. Bayern München hat jetzt ein riesiges Spieler-Potenzial, aber es zeigt sich, dass das alles erst einmal zusammen finden muss. Sportlich und menschlich.


    Bayer vor Bayern: Treibt Sie die Lust auf einen Titel noch an?


    Heynckes: Wissen Sie was? Das brauche ich nicht mehr.


    http://www.derwesten.de/nachri…ews-137985530/detail.html