kicker-Bericht über Renato Augusto - „Der Wahnsinn“

  • von http://www.bl04.de


    5:2 gegen Hoffenheim! Drei Spiele absolviert, zweimal Note 2, einmal 3,5. RENATO AUGUSTO (20) kann für Leverkusen ganz wertvoll werden


    Klar, die zirka 500 Wörter, die er an richtig harten Tagen während seines Studiums der Fremdsprachen an der Universität Heidelberg in Englisch oder Portugiesisch pauken muss, die sind es noch nicht bei seinem Schützling. Doch nach rund sechs Wochen hat Peter Lüdemann (29) - von Bayer Leverkusen engagierter Übersetzer für die neuen Spieler aus Brasilien - angenehm überrascht festgestellt, dass es bei Renato Augusto schon „über 50 deutsche Wörter sind, die er gut beherrscht". Das neu erlernte Vokabular beschränkt sich noch auf Grüße, auf die fußballtypischen Kommandos sowie auf das Bestellen von Essen. Trotzdem ist es nach ein paar Wochen mehr als man von vielen Brasilianern gewohnt ist, mehr sogar, als viele der Jungs aus Rio, Sao Paulo oder Porto Alegre nach jahrelangem Engagement bereit waren, von sich zu geben.


    Renato Augusto erfüllt kein Klischee. Er ist 20 und wirkt wie ein lange schon erwachsener Mann. Der Händedruck ist fest, das Lächeln kommt an den richtigen Stellen, interessiert hört er zu - es könnte ja etwas zu lernen geben.
    Anders als viele seiner Landsleute kämpfte er nicht in den Favelas seiner Heimatstadt Rio de Janeiro ums Überleben, die in die Berge gebauten Elendsviertel aus Wellblech, Pappe und schwarz organisierten Backsteinen kennt er nur aus der Ferne. Seine Herkunft will er nicht herausstreichen, sie ist das, was man landläufig „gutbürgerlich“ nennt, seine Schulbildung entspricht der Hochschulreife.


    „Wir hatten großes Glück, ihn zu bekommen."
    RUDI VÖLLER, Sportdirektor


    Einen intelligenten Jungen haben sich die Leverkusener da geschnappt. Doch dies ist nur eine Facette einer Geschichte, die eigentlich nie hätte erzählt werden dürfen.
    „Wir hatten Glück, ihn zu bekommen", gibt Rudi Völler (48), Leverkusens Sportdirektor, zu. Tatsächlich konnten sie damit überhaupt nicht rechnen. Als Bayer-Manager Michael Reschke sich Richtung Rio aufmachte, da war der Fokus auf den Innenverteidiger Thiago Silva (23. Fluminense) gerichtet. Die Verhandlungen mit dem Klub und den Eignern des Spielers zogen sich schon Wochen hin. Wie ein alter Kaugummi an der Schuhsohle, eine mehr als klebrige Angelegenheit mit völlig ungewissem Ausgang. Nicht zufällig, weil man auch nach einem kreativen Mittelfeldspieler fahndete, besuchte Reschke die Partie von Flamengo gegen Nautico. Und war hin und weg. Renato Augusto glänzte im Mittelfeld des Traditionsvereins, der Twen schwang sich zum Chef auf dem Rasen auf, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Ein paar tausend Kilometer entfernt ging an diesem Tag zeitgleich bei Rudi Völler, Bayer Geschäftsführer Wolfgang Holzhäuser und Trainer Bruno Labbadia eine gleichlautende SMS ein: »Der Wahnsinn! Habe Renato Augusto im Maracana gesehen. Würde den Jungen holen, selbst wenn er sich heute schwer verletzen würde."


    Seit drei Jahren beobachtete Bayer ,den Wunschspieler unserer Scouting-Abteilung", so Reschke. Einen Mittelfeldspieler mit einer Menge Vorzügen: technisch brillant beidfüßig, mit einem Mordsschuss ausgestattet, ein Teamspieler mit überragenden Ideen, ein guter Freistoßschütze und, und, und. Alles in allem sorgten seine früh erkannten Vorzüge dafür, dass Flamengo nach der letzten Vertragsverlängerung im Jahre 2006 für den damals 18-Jährigen eine Ablöse von 30 Millionen Dollar festschreiben ließ. Eine Menge Geld, eine Summe, die allerdings zum Teil der Abschreckung dienen sollte. Auf rund 15 Millionen Euro taxierten Kenner der Szene den Mittelfeldspieler. Doch dessen Blütenträume von Nationalmannschaft und Auslandsangeboten erhielten Anfang 2008 zunächst einen herben Dämpfer Eine schwere Kopfverletzung, zugezogen in einem hart geführten Zweikampf, zwang Renato Augusto für viele Monate zur Pause. Die zertrümmerten Knochen der rechten Gesichtshälfte wurden mit Titanplatten fixiert, noch heute zeugt eine Narbe von diesem schrecklichen Unfall So niederschmetternd dieser Vorfall für den Spieler war, entschied er doch letztlich über den weiteren Weg. Sein Comeback beim Traditionsklub Flamengo verlief nicht wie gewohnt, nur schwer kam er in die Gänge. Beiderseitig wuchs der Wunsch nach einer Veränderung. Exakt in dieser Situation tauchte Michael Reschke auf.


    „Reschke erzählte mir von der brasilianischen Tradition."
    RENATO AUGUSTO, Spieler


    Zur richtigen Zeit am richtigen Ort - Reschke erwischte die Idealkonstellation für einen Bundesliga-Manager. Es folgten Gespräche mit dem Spieler, die der heute so beschreibt: „Reschke und ich funkten vom ersten Moment an auf einer Wellenlänge. Er überzeugte mich in einem unheimlich temperamentvollen Vortrag davon, dass für mich gar kein anderer Klub infrage kommt als Bayer. Er erzählte von Emerson, Juan, Lucio, von der brasilianischen Tradition in Leverkusen." Den Spieler auf seine Seite zu ziehen war wichtig, da es Angebote aus Frankreich und Italien hagelte. Olympique Lyon, Stade Rennes, Inter Mailand - viele Klubs fragten nach. Bayer bekam ihn, auch weil Reschke clever verhandelte und jederzeit Rückendeckung aus Leverkusen besaß. Am Ende standen sechs Millionen Euro Ablöse, eine vergleichsweise geringe Summe, erklärbar durch die Umstände. Allerdings: Der Fünf-Jahres-Vertrag beinhaltet Varianten. Bereits nach drei Jahren greifen Ausstiegsklauseln, die Renato Augusto einen Wechsel ermöglichen. Sollte die Ablöse mehr als sechs Millionen betragen, wird Bayer trotzdem nicht viel mehr als diese Summe erzielen. Den Rest teilen sich verschiedene Parteien - Flamengo partizipiert ebenso wie der eine oder andere Berater des Spielers.


    Wie auch immer. In den ersten Spielen für Bayer unterstrich Renato sein immenses Potenzial. Ob und für welche Summe er in zwei Jahren den Verein wechselt, steht heute in den Sternen. In Leverkusen sind sie nicht bereit, darüber ernsthaft nachzudenken: „Wir wollen Freude haben an dem Jungen. Er ist ein fantastischer Fußballer und es ist eine tolle Sache, dass er bei uns spielt", sagt Rudi Völler. Unterstützung erhält der Sportdirektor von einem, der nur noch als Fan zu Bayer geht. Aber trotzdem noch Anteil nimmt, gerade wenn es um Brasilianer geht. Und so sagt Reiner Calmund (59}; der Ex-Manager, über diesen Transfer:„Da haben meine Nachfolger ein goldenes Händchen bewiesen.“


    Frank Lussem


    - kicker Printausgabe Nr. 72, 01 September 2008, Seite 16-17 -


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