"Der Fan ist die Basis von allem"

  • Hier die Loge, da der Stehplatz. Mittendrin: Der Fußball als Wirtschaftszweig, der Gewinn machen will und muss. Zwischen Tradition und Moderne – viele Fans fühlen sich bei diesem Spagat nur noch als schmückendes Beiwerk.


    Der Protest ist nicht zu übersehen. Auf Transparenten, T-Shirts, Schals, Buttons, sogar auf Mützen erheben Fans in den Kurven ihre Stimme: „Gegen den modernen Fußball“ steht dort zu lesen.


    Moderner Fußball – so zweideutig dieser Begriff alleine schon ist, so unterschiedlich ist auch die Auffassung in der Loge und auf dem Stehplatz. Wenn mit modernem Fußball nicht mehr eine auf Spielsystem und Konzeptfußball basierende Wahrheit auf dem Platz gemeint ist, der Anhänger sich dafür umso mehr als Fußball-Konsumenten vereinnahmt fühlt, dann, spätestens dann wäre es besser, dass sich die Vereine Gedanken machen.


    Matthias Sammer hat es schon vor Jahren gesagt: „Bei allem was wir tun, müssen wir an eines denken: Der Fan ist die Basis für alles.“ Recht hat er, der DFB-Sportdirektor. Das ganze Millionengeschäft – ob Spielergehälter, neue Stadien, TV-Gelder, etc. – alles nicht machbar ohne den Fan. Durch die Wutrede von Bayern-Manager Uli Hoeneß am 12. November sind sie wieder mal in den Blickpunkt gerückt, die Fans. Aber auch Hoeneß weiß: Die Fans gibt es nicht.


    Da gibt es die eingefleischten, aktiven Fans, seit Kindesbeinen dabei und meist auf den Stehplätzen zu finden. Da gibt es die Fans, die etwas Luxus suchen, natürlich auch mit dem Herzen dabei, häufig mit Familie, aber eher auf den Tribünen. Und da gibt es seit einigen Jahren verstärkt die Besucher, die es sich in Logen und Business-Seats bequem machen. Kein Zweifel, der Profifußball kann bei der Finanzierung des Geschäfts auf keine der Gruppen verzichten. Warum auch?


    Fakt ist: Die Gewöhnungszeit an Neuerungen hat im Fußball dramatisch abgenommen. Nahezu jeder Eckball und jeder Einwurf wird von einer Firma XY präsentiert; Stadionnamen werden verkauft; Stadien werden zu Arenen und Spielervermittler sponsern Fanclubs – das Geschäft mit dem runden Leder treibt die seltsamsten Blüten.


    Fußball und Kommerz – diese Thematik gewinnt rasant an Fahrt. Spieltage werden zerstückelt und Spiele beginnen nicht mehr zur selben Zeit, sondern so, dass TV-Sender sicher sein können: Es sitzen möglichst viele Zuschauer zu Hause vor dem Fernseher. In der 2. Liga ist freitags um 18 Uhr Anstoß, weil um 20 Uhr die Bundesliga beginnt. Für die nächste Saison startende neue 3. Profiliga befürchten viele bereits Anstoßzeiten um 12 Uhr, damit um 15:30 Uhr exklusiv das Premium-Produkt über die Mattscheibe flimmern kann. Es wird keine Rücksicht auf die Fans genommen, die zum Auswärtsspiel von weit her anreisen müssen.


    Wo fängt der Kommerz-Überdruss an, ab wann bewegen sich Vermarktungsstrategen noch in einem erträglichen Rahmen? „Moderner Profifußball ist eben das Ergebnis gezielt organisierter, institutioneller und finanzieller Förderung. Dabei ist sein Erfolg ohne emotionsgeladene Identifikation der Fans gar nicht denkbar.“ so Doris Blutner (46), Doktor der Soziologie und Ökonomie an der Universität Dortmund. Sie referiert über das Thema „Moderner Fußball – Geschäft mit kaltem Herzen“ und macht deutlich: „Wird versucht, das traditionelle Gemeinschaftsgefühl durch marktbezogene Maßnahmen zu unterstützen, droht schnell der gegenteilige Effekt: ein Bedeutungsverlust identitätsstiftender, gemeinschaftlicher Bindungen, zugunsten kundenorientiertem Eventerleben.“


    Als warnendes Negativbeispiel für den kommerz-orientierten Würgegriff des modernen Fußballs gilt der österreichische Verein Red Bull Salzburg. Selten war ein Sponsoring so umstritten wie hier, nachdem im Jahr 2005 der gesamte Traditionsklub SV Austria Salzburg übernommen worden war. Nicht nur der Vereinsname wurde geändert, auch vor der seit 1933 bestehenden Trikotfarbe Violett-Weiß machte der Energy-Drink-Hersteller nicht halt. Ein völlig neues Image wurde aus dem Nichts gezaubert. Austria-Anhängern wurde erklärt, ihre violetten Schals nicht mehr ins Stadion zu bringen – sonst würde ihnen der Eintritt verwehrt. Alles soll beim verordneten Identitätswandel abgestimmt sein auf die Marketingmaschinerie: In der „Bullen-Arena“ wird zur Pause die schönste Frau des Stadions zur Red-Bullerina gewählt, der Zuschauer kann sich bei Disco-Beleuchtung und Partymusik den Energy-Drink sogar bequem per SMS auf den Sitzplatz bestellen.


    Zu viel für den Traditionsbewussten Austria-Fans. Sie gründeten „ihren“ SV Austria Salzburg neu. Als Vorbild dienten die nach Übernahmekäufen neugegründeten, fangetragenen Vereine AFC Wimbledon und FC United of Manchester. Den Gang in die unterste Spielklasse nahm man dabei gerne in Kauf.


    Was ist die Fan-Seele in ihrer Sehnsucht nach dem sportlichen Erfolg heute bereit zu ertragen? Für den Anhänger in der Loge ist es vielleicht schwer nachzuvollziehen, warum der Fan in Dortmund gegen weiß-gelbe Streifen im traditionell schwaz-gelben BVB-Trikot protestiert. Denn: Ein Großteil der potenten Kundschaft scheint am Erhalt traditioneller Werte nicht interessiert zu sein.


    Neben übertriebener Geschäfttüchtigkeit ein weiterer Vorwurf der Fans: Es ist mittlerweile extrem schick ins Stadion zu gehen. Dabei hat es den Anschein, viele gehen zu einem Event, nicht zu einem Fußballspiel. Aber: Dieses Publikum füllt spätestens seit der WM die Stadien und die Kassen. Die Liga boomt. Leidlicher Nebeneffekt: Es steigt auch die Zahl derer, die Fußball an sich wenig interessiert. Kaum landet der erste Fehlpass im Aus, wird gepfiffen. Die Stimmung kränkelt folglich im weiten Rund.


    Und der Unmut in den Kurven wächst. Viele Fans klagen vermehrt über Vereinsschikanen und Verbote. Eintracht-Frankfurt-Fan Daniel Burgard zum Beispiel erklärt: „Konfrontiert mit einer Ladung Überreglementierung und Entmündigung werden einem im Fanalltag schon am Stadioneingang Rucksäcke und Kameras konfisziert; kleinen Kindern wird die Fahne weggenommen, weil der Stock 4 Zentimeter zu lang ist; Augentropfen werden eingezogen, da sie als Wurfgeschoss missbraucht werden könnten.“ Führt der 27-jährige auf. Und ist stocksauer: „Die Stimmung, die Art wie die Fans auf den Spielverlauf reagieren, das wird doch immer mehr von den Klubs bestimmt.“


    Der Eindruck täuscht nicht: Bei jedem Tor heult laute Musik auf, dem Eventpublikum der Takt vorgegeben, die eigenständige und kreative Fankurve mundtot gemacht. Sogar weit vor Anpfiff bestimmt ohrenbetäubendes Gedudel den Rhythmus, mit dem jeder mitmuss; verhindert bewusst ein akustisches Einstimmen beider Fan-Lager. Probleme, für die viele in den Logen wenig Verständnis aufbringen, die den sensiblen Mikrokosmos in der Kurve in eine Sinnkrise stürzen.


    Burgard hat jedoch auch Verständnis für die Vereinführungen. „Die Vereine wollen und müssen International wettbewerbsfähig sein, ihren Fans einen Diego, Toni, van der Vaart oder Ribery bieten. Dafür benötigen sie Kohle.“ Zuschauereinnahmen stellen dabei nur noch ein Zubrot dar – ohne finanzkräftige Sponsoren, ohne Werbung und ohne TV-Gelder keine großen Stars. „Ein Handlungsdilemma“, weiß Dr. Blutner.


    „Ich kann verstehen, dass für viele das Maß irgendwann voll ist. Die Identifikation darf nicht verloren gehen – ein Identitätsbruch wäre fatal“, zeigt Frithjof Kraemer (34), Geschäftsführer von Alemannia Aachen, Verständnis. Er versichert: „Eine Arena oder einen Tempel wird es bei uns nicht geben, auch eine andere Farbgebung werden wir nicht mitmachen.“


    Hehre Ansichten, im Big Business Fußball, aber eher die Ausnahme als die Regel. Wobei auch klar sein muss: Die Erwartungshaltung beim ambitionierten Zweitligisten ist auch eine andere als beim Rekordmeister FC Bayern München oder gar beim investorbestimmten Red Bull Salzburg in Österreich.


    Ob in der Loge, auf der Gegengerade oder in der Kurve – ist es zu blauäugig zu hoffen, dass die Fans zukünftig auch bei den Spitzenvereinen des deutschen Fußballs differenzierter in ihrer Vielfalt wahr und ernst genommen werden, und nicht als homogene Masse, der man alles vorsetzen kann? Ganz wichtig dabei: Es darf keine Glaubensfrage aufkommen: „VIPs in der Loge oder Fan in der Kurve?“ Vielmehr muss heutzutage im Sinne des Fußballs beides möglich sein.


    Um dies zu erreichen, sollten sich beide Extreme allerdings akzeptieren lernen, nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Ansonsten hat der Profußball ein Problem.


    Von: Marcus Lehmann


    Quelle: Kicker